Im Kloster zu mehr Achtsamkeit und Gelassenheit für den Alltag
Ende Oktober steige ich ins Flugzeug und fliege via Abu Dhabi nach Thailand. Ich lande am frühen Morgen in Bangkok und es ist wie immer laut, heiss und schwül. Ich freue mich, die Stadt tags darauf mit dem Nachtzug bereits wieder zu verlassen. Die Reise geht knapp 800 Kilometer nach Chiang Mai. Dort werde ich in ein «Vipassana Insight Meditation Retreat» im Kloster Wat Ram Poeng eintreten. Es ist mein zweites solches Retreat, in dem ich versuchen werde, zur Ruhe zu kommen, in mich zu gehen und zu schweigen.
Der Klosteralltag beginnt um 04:00 mit Tagwache, um 04:20 beginnen wir bereits mit meditieren, bevor es um ca. 06:00 Frühstück gibt. Das Mittagessen gibt es bereits um 10:30 und das wars dann für den Tag. Abendessen gibt es keines (fasten klärt den Geist), aber Trinken ist immer erlaubt. Die restliche Zeit des Tages verbringe ich während 10 Stunden und mehr mit Sitz- und Gehmeditation. Dazu kommen noch «Dharma Talks», in denen wir mehr über Vipassana und Meditation lernen. Um 22:00 ist dann Nachtruhe, bevor es am nächsten Morgen um 04:00 wieder von vorne los geht.
Ich meditiere, indem ich beim Gehen jeden Schritt sehr langsam und mit sehr viel Achtsamkeit mache. Ich versuche, jeden Teil der Bewegung einzeln wahrzunehmen und ganz bewusst auszuführen. So werden aus einem Schritt, den wir normalerweise als eine Einheit, einen Schritt wahrnehmen, plötzlich ganz viele kleine Teile: Fuss anheben, Fuss vorwärtsbewegen, Fuss absetzen, Gewicht langsam auf das vordere Bein verlagern, Fussballen und die Zehen spüren, die Ferse wahrnehmen, ausbalancieren, und von vorne mit dem anderen Fuss.
Beim Sitzen konzentriere ich mich auf den Atem und wo ich ihn im Körper spüre. In dem Kloster wird gelehrt, dass man ihn im Bauch spüren soll bzw. wie sich der Bauch hebt und senkt. Ich werde mir zudem zwischen jedem Atemzug meines Körpers bewusst und dass ich sitze. Später kommt dann noch eine Reihe von Punkten am Körper hinzu und ich mache, was sich ein Body Scan nennt. Und dann ist da ja noch die Sache mit dem Denken…
Bangkok; schnell, chaotisch und oft laut
Wenn du jetzt meinst, dass ich versuche nicht zu denken, liegst du falsch. Nicht denken geht gar nicht. Dazu ist unser Hirn nicht fähig und es hat auch nicht so gerne, wenn es ignoriert wird. Was ich versuche, ist die Gedanken nicht zu bewerten, ihnen nicht zu folgen bzw. nicht nachzuhängen (so reizvoll es manchmal auch erscheint in einen schönen Tagtraum einzusteigen). Ich übe mich darin, was da kommt einfach neutral wahrzunehmen, ohne mit «positiv» oder «negativ» zu bewerten und die Gedanken wieder ziehen zu lassen. Wenn ich merke, dass ich trotzdem hängen bleibe, darf ich die Gedanken bzw. was ich denke und fühle, auch benennen. Wenn Wut hochkommt, dann sage ich mir in Gedanken einfach „Wut“, „Wut“, „Wut“ oder ich kann mir auch einfach „denken“, „denken“, „denken“, sagen, wenn ich das nicht weiter konkretisieren will.
Ich übe gelassener zu sein und nicht gleich auf jeden Gedanken oder sensorischen Input von aussen zu reagieren. Ich versuche erstmal einfach wahrzunehmen, was da kommt. Wenn wir z.B. jemand zu uns sprechen hören, sind das im ersten Moment für das Hirn zuerst einmal nur Daten in Form von Schallwellen, die vom Ohr aufgenommen werden und als elektrische Signale ans Hirn geleitet werden. Diese rohen Daten werden weder etikettiert noch bewertet. Im nächsten Schritt identifiziert unser Geist, was vom Bewusstsein aufgenommen wurde, er unterscheidet, bezeichnet und kategorisiert die Rohdaten und bewertet sie positiv oder negativ. Sobald ein Signal in Form von Rohdaten auftaucht, beginnt auch unser Empfinden. Solange die Daten nicht bewertet sind, bleibt unser Empfinden neutral. Sobald aber eine Wertung vorliegt, beginnen wir zu reagieren. Ist die Empfindung angenehm, möchten wir mehr davon, ist sie unangenehm, möchte der Geist sie möglichst wegschieben oder stoppen.
Trotz Ruhe und viel Üben kommen mir meine Gedanken immer mal wieder wie ein chaotischer Taubenschwarm vor.
Wenn mich also jemand anspricht, gelangen in einem ersten Moment Schallwellen zu meinen Ohren, diese werden aufgenommen, analysiert und bewertet. Verstehe ich die Sprache und erkenne aufgrund gemachter Erfahrungen, dass es eine freundliche Botschaft ist, bleibe ich ruhig und bin offen für mehr. Erkenne ich aber, dass die Person etwa wütend ist, mich mit Vorwürfen eindeckt und mich verbal vielleicht sogar angreift, dann erfolgt eine ganz andere Reaktion und ich möchte der Empfindung ausweichen. Stelle dir nun das Beispiel vor, dass dich jemand in einer dir fremden Sprache anspricht und du an ihren Gesichtszügen nicht erkennen kannst, ob die Person freundlich oder wütend ist. In diesem Fall wird dein Geist den sensorischen Input in Form von Wörtern neutral bewerten und du wirst erst einmal nicht reagieren.
Wie wir reagieren, hängt zum grössten Teil davon ab, was wir alles erlebt haben, welche sozialen Normen bei uns gelten, was gesellschaftlich als akzeptabel oder nicht tolerierbar gilt und was unser persönliches Wertesystem darüber aussagt. So gilt z.B. in den meisten westlichen Ländern Schmatzen als unhöflich beim Essen. In asiatischen Ländern ist dies dagegen erwünscht, um zu zeigen, dass es lecker ist und schmeckt.
Die Klosterkatze lebt vermutlich immer im Moment und kämpft weniger mit abschweifenden Gedanken
Damit, dass ich mich den ganzen Tag lang übe, Gedanken und sensorischen Input zu erkennen und weder mit einer Bewertung darauf zu reagieren noch den Gedanken und Gefühlen dazu anzuhaften, schaffe ich mir viel Freiraum. Ich reagiere nicht mehr auf alles einfach unbewusst und schaffe mir der Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob und wie ich reagieren will (in den meisten Fällen erst einmal gar nicht und abwarten).
Wir werden in unserem Alltag von so unglaublich vielen kleinen Dingen beeinflusst, die wir als korrektes/nicht korrektes Verhalten gelernt haben und reagieren bei Abweichungen meist unbewusst und in Millisekunden. Indem ich meditiere, übe ich mich, nicht gleich alles zu bewerten und mehr Achtsamkeit und Gelassenheit im Alltag zu haben. Damit habe ich die Möglichkeit, mich zu entscheiden, ob ich einen sensorischen Input überhaupt bewerte oder ihn einfach weiter neutral als Daten betrachte und ziehen lasse, ohne mich weiter darauf zu konzentrieren und mich allenfalls sogar darüber aufzuregen.
In Coachingsituationen hilft es mir/uns, dem Gegenüber vorbehaltslos zuhören zu können, ohne zu urteilen und zuerst einmal die ganze Geschichte zu erfahren. Am Ende ist immer der Klient der Experte seines Lebens und nur so kann ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden. Es steht uns nicht zu, zu urteilen oder gar zu richten, sondern nur beim Prozess der Lösungsfindung zu begleiten und zu unterstützen. Insofern sind Achtsamkeit und Gelassenheit in einem Coachinggespräch immer wünschenswert, um ohne Bewertung und erwartungsfrei auf den/die Klient:in eingehen zu können.
Auch bei der Fotografie helfen mir Achtsamkeit und Gelassenheit. Wenn ich mit der Kamera unterwegs und komplett in Gedanken versunken bin, «sehe» ich keine Fotos und bin komplett abgelenkt von dem, was mir meine Gedanken diktieren. Ebenso hilft es mir, was ich sehe und wahrnehme, nicht zu bewerten. Ich habe z.B. zu Beginn einmal gelernt, dass bei Aufnahmen der Horizont gerade sein sollte, weil sonst die das Bild gefühlt kippt. Wenn ich nun aber ein Foto mache das wiedergibt, wie sich der Moment für mich angefühlt hat, kann es gut sein, dass ein schräger Horizont die gewünschte Wirkung erzielt. Wenn ich aber sofort auf die Regel «gerader Horizont» reagiere, gibt das Bild am Ende nicht das wieder, was ich wollte.
“Korrekter” gerader Horizont
Ich finde, dass der schräge Horizont die Kurvenlage bzw. wie es sich im Flieger angefühlt hat, viel besser wieder gibt als der gerade Horizont.
Ein Retreat bietet die Möglichkeit, mich aus dem hektischen Alltag zurückzuziehen und mich ganz auf die Meditation zu konzentrieren. So muss ich zu Beginn auch das Natel und Tablet, allfällige Bücher und leider auch die Kamera abgeben. Damit entferne ich jegliche Störmöglichkeiten von aussen, was mir erlaubt, tiefer in die Meditation einzutauchen. Ebenso dürfen wir untereinander nicht sprechen. Dies fördert einerseits, dass ich ganz auf mich zurückgeworfen werde aber andererseits mich auch nicht austausche über den Prozess und so beeinflusst werde. Es ist nicht immer einfach und die Stunden und Tage können lang sein, aber ich konnte auch dieses Mal in der Stille wieder einiges über mich lernen und an meiner Achtsamkeit und Gelassenheit arbeiten. Es ist sicher nicht das letzte Mal, dass ich so einen Aufenthalt gemacht habe und bin schon auf das nächste Mal gespannt.
Meditierst du im Alltag und/oder warst auch schon einmal in einem Meditationsretreat? Schreib doch in den Kommentaren, was es dir bringt und warum du es machst. Wir sind neugierig, mehr darüber zu erfahren.